John F. Kennedy – Auf politischer Identitätssuche unter Deutschen

Eine von Oliver Lubrich herausgegebene Sammlung von Tagebuchaufzeichnungen und Briefen des jungen John F. Kennedy stellt den späteren Präsidenten vor, wie er kaum einem bekannt sein dürfte. Auszüge von Beobachtungen und Briefen Kennedys, die während seiner Europareisen in den Jahren 1937, 1939 und 1945 entstanden, dokumentieren die Entwicklung eines 20-jährigen Politikstudenten zum 28-jährigen weltgewandten Journalisten.

 

Eine erste Europareise im Jahr 1937 führt Kennedy und seinen Schulfreund Lem Billings quer über den Kontinent. In Kennedys nach Europa überführtem Ford-Cabriolet machen sie Station in Frankreich, Italien, Österreich, Deutschland, den Niederlanden, Belgien und Großbritannien.

 

Ohne ein tieferes Verständnis von Europa und seinen Bewohnern reist der junge Kennedy durch die alte Welt. Ironisch und nonchalant kommentiert er seine Reise, mitunter versteigt er sich zu kruden, wenig durchdachten Äußerungen: »Der Faschismus ist das Richtige für Deutschland und Italien, Kommunismus für Russland und Demokratie für Amerika und England.« Zugleich liest er sich Wissen über den Kontinent an, reflektiert und sucht nach eigenen Standpunkten. Während seiner Reise vertieft sich Kennedy in die Lektüre von »Inside Europe«, einer vom amerikanischen Journalisten John Gunther veröffentlichten Bestandsaufnahme des Europas der 1930er-Jahre. Mit dem Lesefortschritt ändern sich Kennedys Ansichten nahezu täglich: »Jetzt nicht mehr so überzeugt von Francos Sieg. Zeigt, dass man von seinem Umfeld leicht beeinflusst werden kann, wenn man keine Ahnung hat.« Gewissermaßen steht dieses Zitat exemplarisch für den jungen John F. Kennedy, der seine politische Naivität und Unwissenheit nicht versteckt. Ganz im Gegenteil: Er ist sich ihrer voll bewusst. So wenig Kennedy es zu diesem Zeitpunkt vermag, Europa und die Machtverhältnisse auf dem Kontinent zu verstehen, so sehr stellt seine erste Reise doch einen signifikanten Lernprozess dar, der zwei Jahre später erste Früchte trägt.

 

Eine zweite Europareise führt Kennedy im Jahr 1939 nach Europa. Im Rahmen eines Freisemesters arbeitet Kennedy zu dieser Zeit als Sekretär für seinen Vater in der amerikanischen Botschaft in London. Zugleich beginnt er hier mit der Vorbereitung seiner Abschlussarbeit, die ein Jahr später unter dem Titel »Why England Slept« erscheint. Dank des Einflusses seines Vaters hat Kennedy die Möglichkeit während dieses Aufenthalts weit ausgedehntere Reisen zu unternehmen. Diese führen ihn unter anderem nach Moskau, Bukarest, Istanbul, Jerusalem, Warschau, ins Vorkriegs-Berlin und in das besetzte Prag. Der nun 22-jährige wirkt in vielerlei Hinsicht gereift. Klar und verständlich analysiert er die Gemengelage im Vorkriegseuropa. Sein vormals lakonischer, undifferenzierte Stil weicht zusehends ernsthaften Reflexionen, in denen er eine bisweilen erstaunliche Weitsicht beweist: »Sollte sich Deutschland zum Krieg entschließen, wird es versuchen, Polen in die Rolle des Aggressors zu drängen und sich dann ans Werk machen.« Auch wenn der junge Kennedy nicht immer richtig liegt (so hält er beispielsweise einen baldigen Kriegsausbruch noch am 20. August 1939 für eher unwahrscheinlich) wird doch deutlich, dass der spätere Journalist und Präsident von seinen Reisen lernt und sich mit großer Neugier der politischen Brisanz in Europa annimmt.

 

Eine jähe Unterbrechung des Kennenlernens Europas wird für den jungen Kennedy der Zweite Weltkrieg. Während dieser Zeit ist er unter anderem als Bootskommandant im Pazifik im Einsatz und kehrt nach Kriegsende zunächst hochdekoriert in die USA zurück. Doch nach nur kurzer Zeit zieht es ihn wieder zurück nach Europa: Als Begleiter des amerikanischen Marineministers James Forrestal erlebt Kennedy die Potsdamer Konferenz der drei Siegermächte von Juli bis August 1945 aus nächster Nähe. Aus dem jungen Studenten ist inzwischen ein Zeitungsreporter geworden der, erneut durch die Vermittlung seines Vaters, für verschiedene amerikanische Zeitungen tätig ist. Ganz wie die Notizen eines Reporters gestalten sich auch die Einträge im Tagebuch, das Kennedy bei seiner Reise abermals führt. Informativ und sachlich beschreibt Kennedy die Trümmerlandschaft Berlins: »Alles ist zerstört. Unter den Linden und die Straßen sind verhältnismäßig frei, doch es gibt kein einziges Gebäude, das nicht ausgebrannt ist.«

 

Die Aufteilung der Besatzungszonen sowie Finanz- und Versorgungsfragen sind die Themen, für die Kennedy sich 1945 am meisten interessiert. So klar er hier in seiner Analyse ist, so wenig lassen Kennedys Überlieferungen Rückschlüsse auf seine politischen Überzeugungen zu. Beispielhaft steht hierfür ein Gespräch, das Kennedy mit einer jungen deutschen Katholikin führt, welche sich den Nationalsozialisten gegenüber klar ablehnend äußert. Er selbst enthält sich jedweden Kommentars. Es ergibt sich ein zumindest ambivalentes Verhältnis Kennedys zum Autoritarismus: Einerseits kritisiert er deutsche Obrigkeitshörigkeit – »An der Fügsamkeit der deutschen Beamten zeigt sich, wie einfach es in Deutschland wäre, die macht an sich zu reißen« – an anderer Stelle gesteht er im Hinblick auf Adolf Hitler ein: » Er hatte etwas Geheimnisvolles in seiner Weise zu leben und in seiner Art zu sterben, das ihn überdauern und das weiter gedeihen wird. Er war aus dem Stoff, aus dem Legenden sind.«

 

Im Geleitwort zum Buch schreibt der ehemalige Bundesminister Egon Bahr über Kennedys Deutschlandreisen: »Das Panorama seiner Erinnerungen war nicht eindeutig.« Tatsächlich: Der junge Kennedy hegt keine unumstößlichen Überzeugungen, auch eine feste Position zu Deutschland, wie er sie nur 15 Jahre später als amerikanischer Präsident in politische Praxis umsetzen wird, ist ihm zu diesem Zeitpunkt noch fremd. Kurzum: Die Tagebuchsammlung ist das Porträt eines politisch Suchenden, dessen Reise im Jahr 1945 noch längst nicht abgeschlossen ist.

 

Alexander Greichgauer

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