Der Mythos Kennedy

»Jetzt denke ich [Jacqueline Kennedy], dass ich es hätte wissen müssen, dass er [John F. Kennedy] durch und durch magisch war. Ich ahnte es – aber ich hätte mir denken sollen, dass es zu viel verlangt ist mit einem solchen Mann alt zu werden.«

 

Eine Woche ­nachdem Präsident John F. Kennedy in Dallas erschossen worden war, ließ sich seine Frau, Jacqueline Kennedy, vom LIFE Magazine interviewen. Da der Präsident durch seinen plötzlichen Tod keine Chance gehabt hatte, sich wie andere Präsidenten vor ihm, in Büchern, Artikeln oder öffentlichen Stellungnahmen zu rechtfertigen, fühlte Jackie sich verpflichtet, ihn in der Öffentlichkeit und gegenüber Historikern ins rechte Licht zu rücken. Denn viele der großen Hoffnungen, die das amerikanische Volk in den 35. Präsidenten der Vereinigten Staaten gesetzt hatte, konnten innerhalb seiner 1.000 Tage im Amt nicht erfüllt werden. Jacqueline befürchtete, dass die Presse dies ausnutzen würde, um zu versuchen, seine Präsidentschaft herabzusetzen.

 

Im Jahr 1963 hatte das LIFE Magazine etwa sieben Millionen Leser und somit einen großen Einfluss auf die öffentliche Meinung. Sich dessen bewusst, versuchte Jackie die Berichterstattung und wie sie sagte, die »Geschichtsschreibung« so zu kontrollieren, dass das Erbe ihres Mannes nicht durch Journalisten und Historiker, die ihm gegenüber missgünstig eingestellt waren, entwürdigt würde. Deswegen wollte sie, dass der Journalist und alte Familienfreund Theodor H. White das Interview mit ihr führt, um John F. Kennedy »vor all den verbitterten Menschen« zu retten, die in Zukunft über ihn schreiben und mit ihm abrechnen würden. 

 

So bestellte ihn die von Trauer gezeichnete Präsidentengattin am 29. November des Jahres 1963 nach Hyannis Port, um sich von ihm zum Attentat auf ihren Mann befragen zu lassen. Sie erzählte ihm, wie sie und Jack manchmal vor dem Schlafengehen den Soundtrack zum Broadway Musical »Camelot« aufgelegt hatten und wie vor allem die letzten Zeilen des letzten Liedes einen besonderen Zauber auf den Präsidenten ausübten. »Don’t let it be forgot, that once there was a spot, for one brief shining moment that was known as Camelot.«

 

Wie in der Sage war Camelot das Königreich der Guten und sein Herrscher, König Artus, aufgrund seines Edelmuts beim Volke sehr beliebt. Wie er verzauberte auch das Präsidentenpaar die Menschen auf der ganzen Welt mit ihrem Charme und mit ihrer Ausstrahlung. Die Sage um Camelot und der damit einhergehende Artus Mythos suggerieren aber immer auch den Glauben des Volkes an die Wiederkehr bzw. die Auferstehung ihres Königs und die Wiederaufnahme seiner Herrschaft. Diese Symbolik kann folgerichtig nicht nur auf John F. Kennedy, sondern auf die gesamte Familie angewendet werden.

 

Am Ende des Interviews stellte Jackie Kennedy fest, dass Amerika in Zukunft bestimmt wieder großartige Präsidenten haben werde, aber nie wieder ein »Camelot«. »There’ll be great Presidents again […] but there’ll never be another Camelot again.« Mit dieser Aussage stilisierte Jackie die Regierungszeit ihres Mannes zum »glanzvollen Moment Amerikas«. Seine Amtszeit war vielleicht kurz gewesen, aber dennoch hatte sie etwas Zauberhaftes innegehabt und war deswegen nicht weniger maßgebend als die anderer Präsidenten.

 

Das amerikanische Volk hatte durch den Kalten Krieg und seinen ungewissen Ausgang, dem Vietnam Krieg, der Kubakrise und nicht zuletzt auch durch die Ermordung ihres Präsidenten viel zu verkraften. Demnach wollte Jackie dieser traurigen Gegenwart den Glanz der alten Zeiten und der ruhmreichen Ritter einhauchen, indem sie den Camelot Mythos wieder zum Leben erweckte. Sie versuchte, der scheinbar sinnlosen Ermordung ihres Mannes durch die Mythologisierung einen Sinn zu geben. Deshalb nutzten Jackie und der jüngere Bruder des Präsidenten, Bobby Kennedy, den traurigen Anlass der Beerdigung JFKs, um den »Mythos Kennedy« weiter zu schüren. Angelehnt an die Beerdigungszeremonie Abraham Lincolns, der erste Präsident, der einem Attentat zum Opfer gefallen war, wurde Kennedy auf dem gleichen Katafalk aufgebahrt und ein gesatteltes, reiterloses Pferd folgte, wie schon zuvor bei Lincoln, dem Sarg im Trommelgeleit. Die Reiterstiefel, die verkehrt herum in den Steigbügeln steckten, symbolisierten den gefallenen und verlorenen Reiter, der nicht mehr zurückkehren würde. Die gesamte Inszenierung sollte darauf hinweisen, dass es sich auch bei Kennedy um die Beerdigung eines Helden und Märtyrer handeln musste. Dieser Mythos lebt bis heute weiter. Der Bann, der von der Kennedy-Familie ausgeht, ist ungebrochen. Wie schon König Artus und seine Tafelrunde, übt auch sie eine immer währende Faszination auf die Menschen aus. Jacquelines Intention, das Vermächtnis ihres Mannes sicherzustellen, damit er als eine Legende in die amerikanische Geschichte eingeht, ist geglückt. Und doch stellt sie am Ende traurig fest: »Jetzt ist er also eine Legende, obwohl er viel lieber ein Mensch geblieben wäre.«

 

SG